Es war im Sommer 1960; ein früher Morgen im Juli, kurz nach dem Sonnenaufgang. Zusammen mit vielen Mädchen und Jungen in meinem Alter (ich war Elf) standen wir dicht gedrängt an der Schiffsreling und blickten auf den schmalen Landstreifen am fernen Horizont. Hinter uns lagen sechs Seetage und schlafarme Nächte in stickigen Grossräumen eines alten Schiffes, das mit den heutigen Kreuzfahrtriesen so viel gemeinsam hatte wie ein alter 2CV mit einer zeitaktuellen Luxuslimousine. Der tapfere Dampfer hiess „Arza” und steuerte gemächlich auf den Hafen von Haifa zu. Das war mein erster Anblick von Israel und ich konnte es kaum erwarten, meine Tante Chawa (Schwester meiner Mutter) und Onkel David kennenzulernen. Sie erwarteten mich am Pier und überschütteten mich mit einer herzlichen Liebe, als wäre der verlorene Sohn endlich wieder heimgekehrt. Ich war überwältigt und sass zwischen diesem kinderlosen Ehepaar auf der Rücksitzbank einer riesigen Limousine wie man sie aus alten amerikanischen Gangsterfilmen kennt. Es war ein Grossraum-Taxi, das unterwegs mehrfach hielt, um Fahrgäste aus- oder einsteigen zu lassen. Während der gut zweistündigen Fahrt nach Givatayim (eine kleine Stadt bei Tel Aviv) streichelte Tante Eva immer wieder meinen Kopf, während mich Onkel David mit Grapefruitsaft und Obst versorgte. Ich kannte diese köstlich erfrischende Frucht noch nicht, die so heisst wie die Menschen, die in Israel geboren werden: Sabre. Wie der Feigenkaktus, der aussen zwar stachelig, aber innen sehr süss ist. Ein Kontrast, der – wie ich mit den Jahren feststellte – sehr zutreffend für die israelische Wesensart ist.
Ich lebte damals mit meiner Mutter in Paris, die hier ihre Karriere als Folkloresängerin begann und später als Belina auch in Deutschland bekannt geworden ist. Meine Eltern hatten sich frühzeitig getrennt, und ich besuchte eine jüdische Internatsschule, in der ich viel über die Entstehung Israels erfuhr. Als Kind wusste ich über die historischen Hintergründe und den Völkermord durch die Nazis sehr wenig; ich hatte seinerzeit ein völlig unbelastetes Verhältnis zu Deutschland. Auch war mir natürlich der Begriff Antisemitismus völlig fremd, obgleich ich bereits als Erstklässler einer Hamburger Volksschule aufgrund meiner jüdischen Herkunft von einigen Mitschülern mehrfach gehänselt worden bin. Ich wusste zwar nicht warum, begriff aber instinktiv schon im frühen Kindesalter, dass Selbstverteidigung die einzige Möglichkeit war, sich gegen Angreifer zu schützen. Notfalls eben auch mit Fäusten und Füssen.
55 Jahre nach meinem ersten Besuch in Israel stand ich mit Tränen einer unbeschreiblichen Dankbarkeit vor der Grabstätte von Eva und David in dem kleinen Ort Kfar Saba. In der einen Hand hielt ich meine Einbürgerungsurkunde, in der anderen die offizielle Bestätigung meiner israelischen Staatsbürgerschaft. Es sind die schönsten Dokumente, die man mir in meinem Leben überreicht hat. Ich habe fast 60 Jahre gebraucht, um das zu werden, was ich bereits seit jenem unvergesslichen Morgen bei meiner Ankunft in Haifa sein wollte: Ein echter Bürger dieses wunderbaren Landes, der einzig wirklichen Heimat des jüdischen Volkes. Leider habe ich mir mit meiner offiziellen Einwanderung nach Israel so viel Zeit genommen, dass meine Tante und Onkel diese Heimkehr nicht haben erleben dürfen. Es war ihr Herzenswunsch, den ich ihnen mit Verspätung erfüllt habe.
Bis zum Ende meiner Schulzeit hatten Eva und David immer wieder versucht, mich ganz zu sich nach Israel zu holen. Ich war für sie wie ein eigenes Kind und sie für mich wie fürsorgliche Eltern. Zeitgleich mit meiner ersten Reise nach Israel hatte mein Vater wieder geheiratet und eine neue Familie gegründet, in die ich mich nicht integrieren konnte oder wollte. Die Konsequenz war ein internationales Internat in der Schweiz, in dem ich in einer multikulturellen Gruppe von Jungs zwischen 12 und 18 vor allem begriff, meine Interessen vertreten zu müssen und mir nicht die berühmte Butter vom Brot nehmen zu lassen. Es waren teilweise Söhne berühmter Filmstars und von sehr vermögenden Familien aus den USA, Europa und den arabischen Emiraten. Meine jährlichen Sommerferien verbrachte ich immer bei Eva und David in Givatayim; hier fühlte ich mich wirklich Zuhause und genoss diese wunderbare Freiheit in einem Umfeld, das mich mit offenen Armen aufnahm. Ich lernte viele Jugendliche kennen und schloss zahlreiche Freundschaften, die teilweise bis heute andauern. Ich war fasziniert von dieser Willkommenskultur und Aufgeschlossen-heit der israelischen Jugend, die mich sofort und ohne jeglichen Vorbehalte als einer von ihnen akzeptierte. Ich war dort, wo ich hingehörte und wo ich nicht um die Zuneigung einer feindseligen Stiefmutter, eines überforderten Vaters oder egoistische Internats-kameraden buhlen musste. Für meine neuen Freunde vor den Kinos, Falafel-Ständen und in den gepflegten Parks von Givatayim war meine Anwesenheit eine Selbstverständlichkeit. Und wenn ich zum Ferienende zurück nach Europa flog, hiess es immer zum Abschied: „Und wann kommst Du wieder.”
Meine Vorfreude auf die nächsten Sommerferien bei meiner Tante und meinem Onkel war so gross, dass ich bereits Wochen davor die Flugpläne der israelischen Airline El-Al studierte, damit ich ja keine Zeit bei der Anreise verlieren würde und so spät wie möglich wieder zurückfliegen konnte. Meine grosse Welt war im Gegensatz zu meinen Mitschülern nicht St. Tropez, St. Moritz, die Bahamas oder Hawaii, sondern das kleine Givatayim in „meinem” Israel. Und ich empfand es überhaupt nicht als Entbehrung, dass Eva und David nicht zu den schönen Reichen oder reichen Schönen dieser Welt zählten, sondern für ihren Lebensunterhalt hart schuften mussten. Trotzdem taten sie alles, um mir jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Ihre selbstlose Grosszügigkeit ging so weit, dass sie sogar für meinen Lebensunterhalt und Ausbildung aufkommen wollten, sofern mein Vater bereit war, mich zu ihnen nach Israel gehen zu lassen.
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